Schwein gehabt, müßten die Verfechter eines allwissenden Staates ausrufen, wenn sie auf die Debatte um den großen Lauschangriff blicken. Für sie war das allgemeine Klima denkbar günstig: In der Wirtschaftskrise haben Bürgerrechte naturgemäß keine Konjunktur; die Streiter für einen liberalen Rechtsstaat sind noch müde von ihrer herben Niederlage im Ringen um das Asylrecht; wegen der besorgten Stimmung im Land wächst die Angst der Menschen vor einem Verlust persönlicher Sicherheit. So konnten jene, die das Abhören von Wohnungen zum Zwecke der Strafverfolgung gestatten wollen, leicht Punkte machen. Daß die Argumente für den Einsatz von Wanzen und Richtmikrofonen schwach, die rechtlichen und politischen Folgen aber schwerwiegend sind, dringt in der Debatte kaum noch durch. Zu Unrecht.
Um den Staatsanwälten das Lauschen zu erlauben, wollen CDU/CSU, fast die gesamte SPD-Spitze und immer mehr Freidemokraten einen Verfassungsartikel seines Kerns berauben. Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung soll für etliche Menschen nicht mehr gelten. Wer verdächtig ist, eine schwere Straftat begangen zu haben, wer mit dem Verdächtigen in Verbindung steht oder wer sich zufällig in dessen Umkreis aufhält: Ihnen allen steht nach den vorliegenden Entwürfen für die Rechtsänderung ein unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung nicht mehr zu. Um an Beweise für seinen Verdacht zu kommen, soll der Staatsanwalt sein Ohr in Privatwohnungen, Hotelzimmer, Geschäftsräume, Kanzleien, Praxen, Redaktionen, Beichtstühle, kurz, überall hineinrecken dürfen. Keine Intimsphäre hätten der Gangster, seine Verwandten, Bekannten und Nachbarn in ihren Privatwohnungen, sein Arzt und dessen Patienten, sein Anwalt und dessen Mandanten, seine Lebensmittelhändler und dessen Kunden, sein Pfarrer und dessen Gemeindemitglieder, der Journalist, mit dem er Kontakt hält und viele Bürger mehr.
Die Befürworter des großen Lauschangriffs ignorieren, welch starke Stellung die Unverletzlichkeit der Wohnung in unserem Rechtssystem hat - und haben muß, wollen wir Erfahrungen mit zwei deutschen Schnüffelsystemen in diesem Jahrhundert nicht verdrängen. Außer dem einschlägigen Artikel 13 Grundgesetz schützen laut dem Bundesgerichtshof auch die verfassungsgemäß garantierte Menschenwürde und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit vor Eingriffen des Staates in den Kernbereich des Privatlebens. Den Verdächtigen und sein Umfeld zu belauschen, heißt auch, Prinzipien der Strafprozeßordnung zu zerstückeln: Die Unschuldsvermutung, das Recht des Beschuldigten zu schweigen, das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen, Anwälten, Journalisten.
Solche Verletzungen lassen sich nicht heilen. Deswegen liegen die SPD-Propagandisten des Abhörens falsch, wenn sie mit strengen Auflagen Mißbrauch verhindern wollen. Außerdem sind etliche, den USA abgeguckte Möglichkeiten der Kontrolle auf unser Rechtssystem nicht übertragbar. Schließlich garantiert keiner der vorliegenden Entwürfe, daß nur die sogenannte organisierte Kriminalität vom Lauschangriff betroffen wäre. Selbst die SPD-Spitze will schon jenen abhören, der verdächtig ist, "eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen zu haben". Dieser Rahmen umfaßt bereits eine Jugendbande, die wiederholt Autos aufgebrochen hat. Professionell organisierten Schwerverbrechern kann die Wanze wenig anhaben. Sie schützen sich schon heute mit Warngeräten oder Störsendern.
Stimmen die Sozialdemokraten bei ihrem Parteitag in dieser Woche dem großen Lauschangriff zu, ziehen sie die ohnehin wankelmütige FDP mit und verschleudern ein Grundrecht zum Niedrigstpreis. In der Sache würde ihnen eine solche Entscheidung kaum etwas bringen. Selbst Anhänger der Wanze gestehen ein, daß sie in anderen Ländern keine großen Erfolge im Kampf gegen das organisierte Verbrechen erzielt. Auch strategisch kann die SPD von einem Ja zum großen Lauschangriff schwerlich profitieren. Zwar gibt sich die Union derzeit offen für sozialdemokratische Ansätze der Kriminalitätsbekämpfung. Übernehmen wird sie diese letztlich nicht. Eine solche Prognose drängen die Erfahrungen aus dem Asylstreit auf. Vor einem Jahr hat ein Sonderarteitag der SPD beschlossen, das Grundrecht auf Schutz vor politischer Verfolgung unter bestimmten Bedingungen zu beschneiden. Drei Wochen später akzeptierten die SPD-Verhandlungsführer eine faktische Abschaffung des Asylrechts - ohne daß die Union auch nur eine einzige Forderung der SPD erfüllte. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb die Entwicklung beim Lauschangriff anders verlaufen sollte.
Schließlich werden die Konservativen gerade nach einer
Einschränkung des Artikels 13 nicht darauf verzichten, SPD und FDP mit
dem angstbesetzten Thema Kriminalität weiter erfolgreich in die Enge zu
treiben. Polizeibefugnisse für Geheimdienste, ungehemmter
Datenaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden, schärfere
Strafgesetze: All das stellt die Union schon heute fast als
Überlebensfrage unseres Gemeinwesens dar. Der große Lauschangriff
stünde eher am Anfang als am Ende eines systematischen Abbaus von
Bürgerrechten.
Zitat aus Berliner Zeitung, 18. Juni 2004:
KARLSRUHE. Im Zuge des Antiterrorkampfes werden nach Ansicht von Ex-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser Schnarrenberger immer mehr bürgerliche Rechte "auf kümmerliche Restbestände" eingeschränkt. "Der Datenschutz wird als Täterschutz diffamiert", zudem sei Deutschland inzwischen "Überwachungsweltmeister", sagte die FDP-Politikerin bei der Vorstellung des Grundrechtsreports 2004 in Karlsruhe. Durch zahlreiche Gesetzesänderungen hätten Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz und MAD inzwischen im großen Umfang Zugriff auf persönliche Daten der Bürger. (AFP)
Zitat aus Berliner Morgenpost, 18. September 2004, S.19:
Berlins Datenschutzbeauftragter Hansjürgen Garstka warnt vor einem Mißbrauch des geplanten automatisierten Kontoabfrage-Systems. "Ab April 2005 haben Ämter, die über Leistungen wie das Arbeitslosengeld II und Wohngeld entscheiden, über das Bundesamt für Finanzen Zugriff auf Namen, Adressen und Kontonummern der Antragsteller", sagte Garstka. Hinzu komme, daß in einem Bereich, in dem Milliarden Euro hin und her geschoben werden, Systeme zum Einsatz kommen, die vor Mißbrauch durch Mitarbeiter der Ämter nicht hinreichend geschützt seien. Im Klartext heiße das, Arbeitslosengeld II könnte beispielsweise auf das eigene Konto abgezweigt werden. ddp
Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 20. Februar 2003 gefährdet Datenschutz