Oder, Neiße und Warthe


Zitat aus Berliner Zeitung, 20. Oktober 1999, Beilage Wissenschaft, S.3:

Die Grenze mit dem grünen Band

Ein 270 Kilometer langer Korridor entlang von Oder und Neiße soll zu einem Naturschutz-Modellprojekt werden

von Kerstin Viering

Mehr als dreißig Storchennester thronen auf den Dächern und Strommasten von Klopot. In dem polnischen Dorf an der Oder, nicht weit von Eisenhüttenstadt, brütet eine der größten Weißstorchkolonien Mitteleuropas. Lange hatten sich polnische Ornithologen gefragt, wo die gefährdeten Vögel auf den intensiv genutzten dorfnahen Wiesen noch Nahrung finden. Erst genaue Untersuchungen der Lebensräume entlang der deutsch-polnischen Grenze lösten das Rätsel. "Störche interessieren sich nicht für Schlagbäume und Grenzbeamte - sie brüten in Polen und fressen in Deutschland", sagt Ireneusz Chojnacki von der Umweltstiftung World Wide Fund for Natur (WWF). Ähnlich grenzübergreifend muß nach Überzeugung des Biologen auch der Naturschutz arbeiten.

Chojnacki leitet das derzeit größte Naturschutzprojekt in der deutsch-polnischen Grenzregion. Ein 270 Kilometer langer Korridor, das "Grüne Band Oder-Neiße", soll sich zum Modellgebiet für eine naturverträgliche Landnutzung entwickeln. Das 11 000 Quadratkilometer große Areal reicht auf deutscher Seite vom brandenburgischen Hohensaaten bis nach Zittau in Sachsen.

"Als wir 1994 mit unserer Arbeit begannen, mußten wir bei Null anfangen", berichtet Chojnacki. Denn die Zusammenarbeit beim Naturschutz war zwischen Deutschland und Polen Ende der achtziger Jahre nur schleppend in Gang gekommen. Besonders auf polnischer Seite gab es so gut wie keine Daten über Lage und Zustand der ökologisch wertvollen Flächen. Doch inzwischen steht das WWF-Projekt kurz vor dem Abschluß, und das "Grüne Band" gehört zu den am besten erforschten Gebieten in ganz Polen. Ihre Erfolge präsentierten die Naturschützer kürzlich bei einer Pressereise.

Etwa 120 Wissenschaftler, Mitarbeiter von WWF und polnischen Naturschutzverbänden haben Tiere, Pflanzen und Biotope dokumentiert. Detaillierte Karten zeigen beispielsweise, daß es in der polnischen Grenzregion noch an vielen Stellen Moore, Auwälder und Trockenrasen gibt - Biotope, die in Europa selten geworden sind. An Oder und Neiße blieb diese Landschaft erhalten, weil das Gebiet wirtschaftlich schwach entwickelt ist.

"Zwar wird jetzt in der Nähe der Grenzübergänge investiert", berichtet WWF-Mitarbeiter Peter Torkler. "Doch ein paar Kilometer weiter herrscht immer noch wirtschaftlicher Stillstand." Für die Bevölkerung, so glauben Torkler und seine Kollegen, liegt in der naturverträglichen Regionalentwicklung eine neue Chance. Wälder, Wiesen und Auen können erhalten und zugleich auch genutzt werden, so die Botschaft des Projekts "Grünes Band".

Anders als die Naturschützer früherer Generationen wollen sich die Projektmitarbeiter also nicht nur auf das Einrichten von Schutzgebieten beschränken. Zwar sind sie stolz auf zwei in Rekordzeit ausgewiesene Landschaftsschutzparke an den Mündungen von Warthe und Neiße. Fast 40 000 Hektar Land sind dort jetzt in ähnlicher Weise geschützt wie deutsche Nationalparke. "Doch damit allein ist noch nicht viel gewonnen", sagt Chojnacki. "Wir haben den Leuten hier versprochen, daß sie die Gewinner der ökologischen Entwicklung sein werden."

Um das zu erreichen, setzen er und seine Kollegen auf eine Art ökologisches Puzzle: Einzelkonzepte zur Land- und Forstwirtschaft, zum Hochwasserschutz und zum sanften Tourismus sollen sich zum Gesamtbild "ökologische Landschaftsnutzung" zusammensetzen."

Besonders unter den Landwirten suchen die Naturschützer nach Verbündeten. Denn ohne die traditionelle Weidewirtschaft lassen sich wertvolle Trockenrasen und Feuchtwiesen nicht erhalten. Büsche und Bäume verdrängen die lichtliebenden Wiesenpflanzen, wenn Schafe und Rinder die jungen Gehölze nicht immer wieder abfressen.

An den Oderhängen südlich der Warthemündung hatte eine solche "Verbuschung" bereits eingesetzt. Robinien und Schlehen begannen die Trockenrasen zu überwuchern. Denn die traditionelle Schafhaltung war unrentabel geworden, die Bauern hatten ihre Herden Ende der achtziger Jahre aufgegeben. So drohte ein seltener Lebensraum zu verschwinden: weite Flächen mit einer steppenähnlichen Vegetation, wie sie sonst normalerweise tausend Kilometer weiter östlich vorkommt.

"In den sechziger Jahren haben Botaniker 30 für die Steppe typische Arten gefunden", erzählt Adrej Jermaczek, Präsident des polnischen Lubuski Naturschutzverbandes (Lubuski Klub Przyrodników, LKP). Doch dann habe sich jahrzehntelang niemand für die Flächen interessiert. Erst mit dem Projekt "Grünes Band" begannen die Schutzbestimmungen für das Gebiet. Mit Mitteln des WWF hat der LKP vor vier Jahren 18 Hektar Trockenrasen gekauft. Inzwischen weiden dort wieder etwa hundert Schafe, der LKP züchtet die alte Rasse, die nur einen polnischen Namen hat: "Wrzosówka". "So versuchen wir gleichzeitig, die vom Aussterben bedrohte Haustierrasse und die Trockenrasenvegetation zu erhalten", sagt Jermaczek.

Erste Erfolge des Projekts, das von der polnischen Stiftung Ekofundusz unterstützt wird, sind bereits zu sehen: Heute wächst auf den Flächen wieder drei Mal so viel steppentypisches Federgras wie vor Beginn der Beweidung. Auf Lehrpfaden und im neuen Wiesenmuseum im Ort Owczary informieren die Naturschützer über Gefährdung, Schutz und Ökologie dieser Lebensräume.

Einige Kilometer nördlich haben Jermaczeks Kollegen im Prinzip die gleichen Probleme. Denn auch auf den feuchten Wiesen im Überschwemmungsgebiet der Warthe grast immer weniger Vieh. "Setzt sich dieser Trend fort, wird hier ein Auwald entstehen", erläutert Jacek Engel, der Direktor des Landschaftsschutzparks Warthemündung. Im Interesse brütender und rastender Vögel wollen die Naturschützer aber zumindest einen Teil der Flächen offen halten. Die weiträumigen, von Wasserläufen durchzogenen Wiesen mit den verstreuten Baumgruppen bieten vielen gefährdeten Vogelarten einen Lebensraum.

So brüten dort beispielsweise Wachtelkönig, Uferschnepfe und Rohrdommel. Und auf dem Flug von und zu ihren Winterquartieren rasten im Naturschutzgebiet Slonsk mehr als 180 000 Saat- und Bläßgänse. "Wir wollen, daß die Bauern die Wiesen weiterhin beweiden, allerdings erst nach der Brutsaison", sagt Engel.

Die Mitarbeiter des "Grünen Bandes" haben bereits einige Landwirte in der Region auf ihre Seite gezogen. Sie helfen derzeit vier Betrieben bei der Umstellung auf ökologischen Landbau. "Vor allem fehlt es noch an Absatzmöglichkeiten für die Produkte", erläutert Projektleiter Chojnacki. "Um Marketing mußte sich im Sozialismus eben kein Bauer kümmern."

In Kostrzyn wurde daher mit Projektmitteln ein kleiner Laden eingerichtet, in dem Produkte der vier Umstellungsbetriebe angeboten werden. "Die Leute sollen Beispiele dafür sehen, daß ökologische Regionalentwicklung funktioniert", sagt Chojnacki. So bleiben nach dem Ende des Projekts nicht nur Schutzgebiete, sondern viele weitere Errungenschaften: vom Fahrradverleih in Kostrzyn bis zum Konzept für Ferien auf dem Bauernhof.

Auch Andrej Jermaczek hat keine Sorge, daß das bevorstehende Projektende das Aus für die ökologische Entwicklung im "Grünen Band" bedeuten könnte. "Wir haben einige hundert Kilogramm Papier und etwa zwei Hektar Kartenmaterial produziert", sagt er. Diese Informationen seien bisher einzigartig für Polen und fänden bei den Behörden großes Interesse. Erstmals gebe es Konzepte und Umsetzungsbeispiele für naturverträgliche Entwicklung im Bereich Land- und Forstwirtschaft sowie Tourismus. "Darauf", so Jermaczek, "werden wir in den nächsten Jahren aufbauen."


Zitat aus Berliner Zeitung, 8. Dezember 1999, S.31:

Das Land im Unteren Odertal wird neu verteilt

Birthler will Streit um Nationalpark beenden

POTSDAM. Umweltminister Wolfgang Birthler (SPD) will im Streit um den Nationalpark Unteres Odertal künftig alle Beteiligten an einen Tisch bringen. Mit Hilfe eines knapp 25 Seiten starken Handlungskonzepts wolle das Land seine Vorstellungen über den Naturpark mit Landwirten, Naturschützern, Unternehmern und Kommunen abstimmen und so zu einer von allen getragenen Lösung kommen, sagte Birthler am Dienstag in Potsdam. Das Konzept sieht auch ein Flurneuordnungsverfahren vor.

Die Vorbereitung für die Flurbereinigung soll laut Birthler ein unabhängiges Büro übernehmen, das er in der kommenden Woche beauftragen wolle. Das Büro soll bis Herbst 2000 untersuchen, wie und in welchem Umfang land-, forst- und fischereiwirtschaftliche Betriebe durch die Auflagen des Naturschutzes betroffen seien. Zudem sollen in einem Pflege- und Entwicklungsplan Fragen etwa zur Wasserwirtschaft, der Fischerei und zu einem Wegekonzept geklärt werden. Der Plan soll dann ab Herbst 2000 verbindlich sein.

Bei der Flurbereinigung sollen "zersplitterte Besitzverhältnisse" auf dem Gebiet des Nationalparks neu geordnet werden. Dies sei nötig, weil der Trägerverein des Nationalparkes auch außerhalb des Schutzgebiets große Flächen aufgekauft habe, die mit Flächen im Schutzgebiet getauscht werden müßten, sagte Birthler. Rund 10 000 Parzellen würden neu verteilt. Nutzer, die Flächen im künftigen Totalreservat hätten, erhielten zum Ausgleich andere Flächen.

Dem Konzept zufolge soll die Hälfte des 10 500 Hektar großen Nationalparks als Totalreservat ausgewiesen werden. Neben den schon 1995 als Vollschutzzone festgeschriebenen 1 100 Hektar würden die übrigen 4 150 Hektar im nördlichen Teil des Nationalparks und in den Hangwäldern entlang der Oder per Landesverordnung ausgewiesen. Davon seien derzeit noch 3 000 Hektar landwirtschaftlich genutzt. Diese Nutzung soll bis Ende 2003, in Ausnahmefällen bis spätestens 2006 auslaufen. (ADN)


Zitat aus Der Tagesspiegel, 22. Juni 2003, S.3:

Wie rettet man seine Heimat?

Das Wasser stand ihnen bis zum Hals, als die Oder über die Ufer trat. Seitdem sind sie sehr empfindlich, wenn es um ihr Land geht. Wenn etwa ein Minister eine Straße quer hindurch bauen will. Dann läuten die Glocken im Bruch wieder Sturm, und die Menschen kämpfen.

von Nadja Klinger

Mitunter lacht Hartmut Meyer etwas zu breit. Er ist Minister, und er sagt: "Ich baue eine Straße und die Bürger wehren sich." Er trägt Krawatte zum Anzug und hat einen persönlichen Referenten. Auf den zeigt er mit dem Finger. "Führt die Straße an seinem Haus vorbei, gründet er eine Bürgerinitiative." Der Referent nickt. "Geht's bei ihr lang, gründet sie eine." Meyer zeigt durch die Tür ins Vorzimmer, wo die Sekretärin sitzt. Er tauscht einen Bürger gegen den anderen aus, in seiner Geschichte sind sie alle beliebig. Man wünscht sich nicht, daß er so redet, aber er tut es. "Entsteht eine Straße hinter meinem Garten", fährt er fort, "dann gehe ich eben auf die Barrikade", und lacht wieder sehr breit. Sein Referent sitzt dann ganz steif.

Die Bühne, auf der sich die Geschichte abspielt, ist etwa 20 Kilometer breit und 60 Kilometer lang: Das Oderbruch am Ostrand Deutschlands. Flachland, viel Himmel, kaum Bäume, etwa 19 000 Bewohner. Die Häuser stehen auf Flußschwammsand, Ton und Torf. In Trockenzeiten bricht der Boden, dann stehen sie nicht mehr stabil. Es gibt Felder und Vieh. Die Einheimischen tragen Gummistiefel. Im Herbst stecken ihre Autos im Matsch fest. Zugvögel landen und machen Pause. Gegen Jahresende steht die Zeit still. Es steht der Fluß. Wochen nach Neujahr schiebt die Oder den Winter gen Norden, langsam, dann schneller, bis das Eis rast. Die Schollen krachen aneinander und zerbersten im Sonnenlicht in glitzernde Scherben. Auf den sattgrünen Frühling folgen heiße Sommertage, die münden in feuchte Abende und kühle Nächte.

September letzten Jahres haben die Oderbruchbewohner ihm einen Brief geschrieben: "Wir sind sicher, daß Sie unsere Sorge um die Region teilen." Sie haben Platzeck gebeten, die Straße, die sein Verkehrsminister durch die sensible Flußlandschaft bauen will, zu verhindern. Ein Antwortschreiben gibt es immer noch nicht. Der Ministerpräsident ist mit der Osterweiterung der Europäischen Union befaßt. Brandenburg wird Brücken nach Polen bauen und asphaltierte Schneisen schlagen. Der Brief. mit dem sich das kleine Oderbruch in den Vordergrund drängt, liegt in der Potsdamer Staatskanzlei. Die Bewohner haben Platzeck zu sich eingeladen. Er war nun mal Deichgraf, sagen sie. Und warten. Aber der Deichgraf kommt nicht noch einmal.

In Otto Knolls Stube in Neureetz hängt eine Landkarte. Knoll wandert darüber hinweg. Er kennt jeden Weg und jedes Haus. Er hat sein Leben im Oderbruch verbracht, jetzt schauft er, weil er ein alter Mann ist, aber er hat das Gebiet unter Kontrolle. Er ist der Chef. Er koordiniert drei Bürgerinitiativen gegen die geplante Straße. Er hat einen dicken Ordner mit Studien des Verkehrsministeriums und von Umweltschützern, mit Schriftkram. Er weiß, wieviele Lkw kommen und daß sie ein weitgehend intaktes Ökosystem mit hochrangig bewahrenswerter Flora und Fauna zerstören werden. Er erklärt, wie die Trasse die unterirdischen Flußadern abschneiden, das Wasser stauen, den Boden verändern und die Hochwassergefahr erhöhen wird. In seinen Papieren steht, daß die Gemeinden zu einem Durchgangsraum für den europäischen Güterverkehr verkommen und die Touristen das Gebiet meiden werden. Knoll trägt selbst in der warmen Stube einen dicken Pullover überm karierten Hemd. Er ist immer auf dem Sprung. Er springt auf Ämtern, Versammlungen und Protestveranstaltungen herum. Er malt Fragezeichen in die Papiere, der Kugelschreiber verschwindet in seiner kräftigen Hand. Knoll würde lieber Sandsäcke schleppen. "Ich fürchte mich nicht vor dem Wasser", sagt er. "Aber die Politiker machen mir Angst."

1997 haben sie mit Sandsäcken gegen das Wasser gekämpft. Deiche weichten durch, man flickte. Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe bat den Kanzler um Hilfe. Helmut Kohl schickte die Bundeswehr. Deiche brachen, und man errichtete neue. Tagelang, ohne Pause, bis die Sirenen heulten und die Kirchglocken läuteten. Sie läuteten wie immer, aber es handelte sich um einen außergewöhnlichen Befehl: Die Menschen sollten fliehen. Die Brandenburger Landesregierung hatte die Absicht, den Hauptdeich aufzugeben und den nördlichen Teil des Oderbruchs absaufen zu lassen. Aber Otto Knoll und seine Nachbarn schleppten und stapelten weiter. Sie ließen sich nicht wegzerren. Von Gott und der Welt verlassen, klammerten sich Tausende an ihrer Heimat fest. Nur einer konnte sich hervortun. Matthias Platzeck war kein Held. Er war Politiker. Er hatte die Macht, den Gedanken ans Aufgeben offiziell wieder zu verwerfen. "Wir kämpfen", sagte er, "alles andere liegt in Gottes Hand."

Die Politik, ein Karnevalsscherz

Michael Rubin hat nach dem Hochwasser 1997 mit anderen Bauern das Forum Oderbruch e.V. gegründet. Gottes Hand, das war ihnen klar, war mindestens eine Hand zu wenig. Rubins Verein kontrollierte, ob die Landesregierung ihre Versprechen einhielt, ob die Deiche saniert, die Hochwasserschutzpläne überarbeitet wurden und die EU-Gelder wirklich ankamen. Rubin ist ein großer, kräftiger Mann mit stoppeligen Haaren und Sonne im Gesicht. Auch er wurde im Oderbruch geboren. Er hat es verlassen und ist wiedergekommen. Bis 1995 war er Bürgermeister, jetzt ist er Präsident vom Karnevalsklub. Er hat Familie, Haus und Stallungen ein paar Hundert Meter hinterm Deich von Zollbrücke. Er raucht starke Marlboro und gießt die Milch seiner Ziegen in den Kaffee. Wenn Hochwasser kommt, wird er über 300 Tiere in Sicherheit bringen. Wenn die Straße kommt, wird sie die Natur zerstören, in der die Ziegen gedeihen. Das Forum Oderbruch e.V. hat eine neue Aufgabe.

"Früher dümpelte bei uns hier jeder vor sich hin", erzählt Rubin. "Das Heimatgefühl reichte nicht über de Dorfgrenzen hinaus." Die vom Untergang bedrohten Menschen hat es 1997 regelrecht zusammengetrieben. Nun gehen sie nicht mehr auseinander.

Rubin und seine Leute haben sich mit zwei anderen Bürgerinitiativen vereint, eine davon ist die von Otto Knoll. Der alte Mann koordiniert die Arbeit, der jüngere streitet sich im Fernsehen mit Hartmut Meyer. Rubin berlinert und redet ohne Umschweife. Hartmut Meyer schmeißt mit kantigen Begriffen zurück: Um Untersuchungsgebiet werde es ein Raumordnungsverfahren und dann ein Planfeststellungsverfahren geben. Das hört sich gut an. Als hätte ein Minister mit persönlichen Entscheidungen gar nichts zu tun. Als wäre er nicht auf die Idee gekommen, eine Straße durch das Oderbruch zu bauen. "Bauen Sie doch in Schwedt oder in Eisenhüttenstadt, wo Industrie ist!", ruft Rubin. "Ich scheue mich nicht, mit Ihnen konstruktiv nach vorn zu diskutieren", antwortet der Minister. Der Präsident grinst. Aus diesem Satz läßt sich zumindest ein guter Karnevalssketch machen.

Was sollen hier Lastwagen?

Die Lehrerin Ina Wilhelm und der Arzt Jens-Uwe Niehoff waren 1997 gerade aus Berlin ins Oderbruch gezogen, da kam das Wasser. Auch sie haben jetzt eine Bürgerinitiative gegen die Straße gegründet - die dritte im Bund von Otto Knoll. Ina Wilhelm hat ebensoviel Material angehäuft wie der alte Mann. Sie trägt einen Rucksack, damit sie vor der Brust das Papier balancieren kann. In flachen Schuhen, die Haarsträhnen zum Zopf gerafft, ist sie auf der Straße Matthias Platzeck hinterhergerannt. Der war kurz angebunden. Erst war Ina Wilhelm wütend, dann hat sie die Presse informiert, Politiker und Fachleute alarmiert. Sie ist durch die Gegend gefahren, hat sich zu Wort gemeldet. Sie und Jens-Uwe Niehoff gehören nicht zu den Bürgern, die der Verkehrsminister in seiner Variante der Geschichte beliebig gegen andere Protestierende austauscht. Meyer redet von den beiden, als wären sie das Problem - nicht die Straße. Die Zugezogenen, sagt er, wiegelten die Bauern im Oderbruch auf.

Jens-Uwe Niehoff hat weniger Papier bei der Hand, aber viele Fakten im Kopf. Er redet über die Beschaffenheit des Bodens im Oderbruch, malt die Landschaft farbig aus, läßt sich in die Geschichte der Region zurückfallen, dringt in die Seelen der Menschen ein. Du bist jetzt einer von uns, haben die Nachbarn in Altwustrow zu ihm gesagt, nachdem er ein altes Fachwerkhaus mühsam restauriert hatte. Sie meinten das ernst. Es stimmte aber nicht ganz. Niehoff verliert niemals seine gemäßigte Radiostimme. Er wird nicht unruhiger, er rastet nicht aus. Er hat sich ins Oderbruch verpflanzt, aber seine Wurzeln gegen nicht so tief. Er ist auf die andere Seite der Oder gefahren. Auch die Bürgermeister dort drüben wollen nur so viele Autos haben, wie eine Fähre über den Fluß bringen kann. Die alten Grenzübergänge reichen. Eine Brücke, eine Straße würden auch in Polen eine Naturschutzgebiet zerstören.

"Warum will der Minister unbedingt hier bauen und nicht südlicher?", fragt Niehoff. In einem Papier aus Meyers Ministerium steht, das Oderbruch sei dünn besiedelt", "ausgeräumt" und biete wenig "Konfliktpotential". Der Minister fügt hinzu: "Unterschriftensammlungen haben keinen Wert." Niehoff sagt: "Wir finden leichter mit unseren polnischen Nachbarn eine Sprache als mit der Landesregierung."

Hartmut Meyers Vorhaben, im Oderbruch eine Trasse für Lkw zu schlagen, ist dieser Tage in den Entwurf zum Bundesverkehrswegeplan aufgenommen worden. In den Gutachten, die erstellt worden sind, gibt es gegen den Bau der Straße zwar viele Bedenken, aber Meyers Idee ist damit nicht gestorben, sie ist nur nicht als dringlich eingestuft worden: Sie steht unter der Kategorie "weiterer Bedarf". Die Straßengegner haben Grund zur Freude. Die Trasse ist damit unwahrscheinlicher geworden - doch nur, weil das Land für die Kategorie "weiterer Bedarf" wohl kein Geld hat. Und so haben Knoll, Rubin, Wilhelm und Niehoff zugleich Grund, wieder mißtrauisch zu sein. Manfred Stolpe, der einstige Übervater aller Brandenburger und heutige Bundesverkehrsminister, kann die Straße "in begründeten Ausnahmefällen" trotzdem bauen lassen, heißt es im Entwurf zum Bundesverkehrswegeplan. Wird er das tun? Herr Stolpe könne sich nicht zu jedem Projekt äußern, sagt sein Pressesprecher in Berlin. Ob er stattdessen weiterhelfen könne, fragt der Mann.

Die Antwort ist: nein. Es geht nicht um Fakten, die ein Pressesprecher darlegen kann. Es geht um Verständnis für die Situation im Oderbruch, das Stolpe nur selbst formulieren kann - wenn er es hat. Es geht um das Schweigen des Deichgrafen. Es geht darum, daß Hartmut Meyer die Leute gern mit Handschlag begrüßt und duzt, aber nur eckig mit ihnen spricht. Die EU verlangt Brücken über die Oder, der Verkehrsminister muß sie bauen, egal wo. Es geht darum, daß in der Politik alles möglich ist, auch Unmögliches.

Man kann sich die Zustimmung der Polen erkaufen. Man kann weniger dringliche Projekte dringlich werden lassen. Man kann Briefe nicht beantworten. Man kann plötzlich in Berlin und damit weit weg sein.

Es braucht nur ein Politiker eine Absicht zu haben, schon heulen im Oderbruch die Sirenen, und es läuten alle Glocken. Die Menschen beginnen zu kämpfen wie einst mit den Sandsäcken. Und sie lassen nicht los.


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