Gerechtigkeit knapp bemessen, heikle Argumentation höchster Gerichte


Zitat aus der Berliner Zeitung, 18. Juni 2004, S.6:

Prozeß zu Enteignungen beginnt von vorn

Menschenrechtsgericht in Straßburg läßt Berufung zu

STRASSBURG, 17. Juni. Der Prozeß um die Enteignung von Grundstücken ehemaliger DDR-Bürger nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 wird neu aufgerollt. Die Klage gegen Deutschland werde auf Antrag der Bundesregierung vor der Großen Kammer neu verhandelt, teilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Donnerstag in Straßburg mit. Die Kleine Kammer des Gerichts hatte im Januar entschieden, daß Deutschland mit den Enteignungen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen habe. (Aktenzeichen: 46720/99, 72203/01 und 72552/01)

Die ohne Entschädigung vorgenommene Enteignung von rund 100 000 Hektar Land, das nach 1945 im Zuge der Bodenreform an Bauern und Flüchtlinge - sogenannte Neubauern - verteilt wurde, verletze den Schutz des Eigentums, entschied das Gericht damals. Das Urteil löste in Deutschland Diskussionen aus, weil die Bundesregierung mit einer Flut von Entschädigungsklagen und möglichen Kosten in Milliardenhöhe rechnen mußte.

Der Gerichtshof hatte mit seinem Urteil fünf ehemaligen DDR-Bürgern recht gegeben, die entsprechende Grundstücke geerbt hatten, sie aber aufgrund des Abwicklungsgesetzes zur Bodenreform von 1992 ohne finanziellen Ausgleich an die ostdeutschen Länder abtreten mußten. Es widersprach mit dem Urteil einer Entscheidung des Bunderverfassungsgereichts vom November 2000, in der die Enteignung für rechtens erklärt worden war. (dpa)


Zitat aus der Berliner Zeitung, 31. März 2005:

Kein Anspruch auf Gerechtigkeit

In Straßburg sind - Gott sei's geklagt - Menschen am Werk und keine Weltenrichter. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kann historisches Unrecht, also vergangene politische Verbrechen, beschreiben, anklagen, verurteilen - wiedergutmachen kann er das Unrecht nicht. Das kann kein Gericht und kann auch nicht die Politik, die im schlimmsten Fall das Unrecht ignoriert, das der einzelne in der Geschichte vor Jahr und Tag erlitt. Im besten Fall kann sie die Not der Opfers nach Kräften zu lindern suchen. Das ist zu wenig? Gewiß! Das ist ungerecht? Bestimmt! Das ist unerträglich? Nein, es ist erträglich - nur nicht für den, der an die Verpflichtung der Geschichte zum gerechten Ausgang und zum Happy End glaubt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat gestern - wie zuvor schon das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen - die Entschädigungsforderungen der Opfer der sowjetischen Enteignungspolitik zwischen 1945 und 1949 mit guten Gründen zurückgewiesen. Es ist richtig, daß die Bundesrepublik Deutschland weder für das Vorgehen der sowjetischen Besatzungsmacht noch für Handlungen der DDR verantwortlich gemacht werden kann. Und richtig ist natürlich auch, daß der Einigungsvertrag die Rückabwicklung der Bodenreform ausdrücklich ausgeschlossen hat, ob nun auf Druck der sowjetischen oder der letzten DDR-Regierung.

All das ist richtig und würde schon für sich genommen die Ablehnung der Klagen rechtfertigen. Aber das Bundesverfassungsgericht hat in der lesenswerten Begründung seines Urteils vom November 2000 daran erinnert, daß das Unrecht der sozialistischen Diktatur eben nicht nur in der rechtsstaatswidrigen Enteignung von Grundbesitzern bestand, sondern die Menschen in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR "vielfältige Beeinträchtigungen auch anderer Güter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ausbildungschancen und berufliches Fortkommen erfahren haben". Diese Schäden sind häufig irreparabel. Und selbst dort, wo Hilfe möglich und geboten wäre, hält sich der Staat fast beschämend zurück.

Ist es angemessen oder nicht vielmehr ein Skandal, daß die Entschädigungen der Opfer der DDR-Justiz bis November 1999 bei 150 Euro für jeden erlittenen Haftmonat lagen - und auch danach auf nur 307 Euro heraufgesetzt worden sind? Ist es nur sparsam oder nicht vielmehr zynisch, daß die rot-grüne Koalition die zusätzliche Gewährung einer lebenslangen Rente für die Justizopfer mit Blick auf die Kosten abgelehnt hat? Und muß nicht jeder am Rechtsstaat Bundesrepublik verzweifeln, der erfährt, daß die Täter oder Angepaßten mit durchschnittlicher DDR-Erwerbslaufbahn heute eine Rente von etwa 1400 Euro kassieren, Systemgegner mit gleichlanger Verfolgtenkarriere hingegen weniger als die Hälfte? Keines dieser Opfer ist durch die "Wiedergutmachung" auf seine Kosten gekommen, niemandem ist von der Politik zurückgegeben worden, was die Geschichte ihm genommen hat. Das war in der Regel ohnehin unmöglich - denn verlorene Lebenschancen bringt keine Opferrente zurück -, und dort, wo es möglich schien, war es tatsächlich zumeist auch nicht möglich - denn mag auch im Einzelfall das Unrecht mit Geld zu begleichen sein, im ganzen führt das den Staat in den Bankrott.

Das gilt auch und vor allem für die Ansprüche der Enteignungsopfer, die völlig zu Recht den unzureichenden Ersatz ihres verlorenen Grundbesitzes beklagen. In mehreren Entscheidungen haben sie sich vom Bundesverfassungsgericht sagen lassen müssen, daß ihre Grundstücke verloren und die Enteignungen nicht rückgängig zu machen seien. Diese Entscheidungen waren bitter ungerecht, und sie waren unvermeidlich. Gestern wurden die Enteignungsopfer vom EGMR rechtskräftig beschieden, daß sie sich mit dem schäbigen Ersatz begnügen müssen, den der Staat ihnen dafür gewährt. Auch das ist ungerecht und selbstverständlich unvermeidlich. Die angemessene Wiedergutmachung - Ersatz nach dem Verkehrswert - hätte die Bundesrepublik nicht nur bis zu 13 Milliarden Euro gekostet. Sie hätte auch gegenüber allen anderen Opfern, die nicht ihr Eigentum, sondern ihre Freiheit oder ihre Gesundheit verloren hatten, eine unzumutbare Bevorzugung bedeutet.

Die Klagen der Enteignungsopfer waren und bleiben berechtigt. Aber der Ort, an dem sie erhoben werden können, ist nicht der Gerichtssaal in Straßburg oder Karlsruhe, sondern jene Klagemauer, die wir Geschichte nennen.

Es ist richtig, daß die Bundesrepublik Deutschland weder für das Vorgehen der sowjetischen Besatzungsmacht noch für Handlungen der DDR verantwortlich gemacht werden kann.


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